Inhaltsverzeichnis


1 Gut hören kann ich nicht, aber schlecht sehen kann ich gut.

2 Die erste Hälfte unseres Lebens versauen uns unsere Eltern … und Geschwister.
Und die Zweite unsere Kinder … und Geschwister.

3 Versuchungen sollte man beim Schopfe packen. Wer weiß, ob sie wiederkommen.

4 Lieber gesunde Verdorbenheit als verdorbene Gesundheit.

5 Es war keine Absicht!

6 Lieber Aufstieg in Blödhausen als auf Stütze in der Hauptstadt.

7 Für den Esel ist die Eselin die Schönste.

8 Liebe macht abhängig.

Leseprobe

Ich bin Mathilda.
Seit Ewigkeiten suche ich nach einem Hilfsmittel, auf das ich zugreifen kann, wenn ich mich ärgere, Liebeskummer habe, Schmerzen, Wut oder Angst empfinde, bei unklaren Finanzangelegenheiten, bei jeglichen Entscheidungsfindungsschwierigkeiten oder bei sonstigen Unsicherheiten, die mich in meinem angenehmen Dasein stören.
Mein Hund, inzwischen Lotti IV, kann ja auch nicht alles abfangen.
An meinen ersten Anruf bei der Seelsorge erinnere ich mich noch genau. Wäre ich damals suizidgefährdet gewesen – nach diesem Gespräch hätte ich es gemacht. Scheinbar arbeiten die auch nur mit Callcentern zusammen.
Fürs Erste habe ich mir ein paar generelle Parolen zugelegt zum Aufrichten in akuten Notlagen: den »Überhaupt-nicht-schlimm-Song«, den »Schwamm-drüber-Song«, »Bleib ruhig«, »Mal sehen«, »Mach langsam«, »Alle kochen nur mit Wasser« …
Das hat zwar geholfen, aber irgendwie hat mir immer noch die menschliche Resonanz gefehlt. Ganz und gar ohne Gesellschaft macht mir das Leben auch keinen Spaß, obwohl ich sehr gern allein bin mit mir und obwohl Gesellschaft erst jegliche Probleme mit sich bringt.
Die Frage war: Welche Menschen hätte ich gern um mich? Mir fällt kein Einziger ein, den ich öfters als einmal die Woche um mich haben möchte. Die meisten Menschen regen mich hochgradig auf mit ihren merkwürdigen Eigenarten und beschränkten Ansichten. Das hilft ja dann auch nicht.
Damit die Sache ordentlich Würze kriegt, müsste ich deutlich unterschiedliche Charaktere aus meinem Bekanntenrepertoire kramen. Ein wenig junges Blut würde ich untermixen, damit ich von der modernen Zeit reichlich mitkriege und nicht in einer Gruppe von anderen Tattergreisen langsam, aber sicher verblöde.
Die Auserwählten dürften weder streitsüchtig noch rechthaberisch sein. Man will sich ja nicht zusätzlich ärgern. Nicht zu einfach gestrickt und finanziell abgesichert sollten sie sein. Ich will ja nicht noch draufzahlen. Trockenen Humor müssten sie haben, und ihr Weltbild sollte mir in irgendeiner Form weiterhelfen.
Das kann ja nicht so schwer sein.
Kenne ich da überhaupt jemanden?
Nach wochenlanger Überlegung hatte ich endlich zwei potenzielle Mitglieder für meine Selbsthilfegruppe angeworben; die beiden hatten natürlich keine Ahnung.
Die erste Wahl fiel auf meine Cousine Helene, eins von den wenigen verträglichen Überbleibseln meiner Familie. Ihr Mann Ralph – spielt eigentlich keine Geige. Er stellt auch kein größeres Problem dar, denn er ist sehr fleißig, um nicht zu sagen, er arbeitet wie ein Idiot. Die nächste war Nina aus der Nachbarschaft, ein bisschen naiv und das Helfersyndrom in Person. Ich bemühe mich ehrlich immer wieder, das niemals auszunutzen.
Meine Tochter Jasmin hatte sich unauffällig immer öfter dazugesellt. Sie ist besonders interessiert am Geschwätz der Alten und verpasst kaum mehr ein Treffen. Wenn es bei heiklen Themen ins Detail geht, kann sie auch mal gekonnt weghören. Taktgefühl hat sie. – Meine Erziehung.
Und als Schmankerl kam Edgar hinzu, Internist im Ruhestand und Exkollege von mir. Das war allerdings nicht von mir geplant. Er hat unseren Altersdurchschnitt nach oben katapultiert.
Gelockt habe ich die Auserwählten nacheinander mit einer Einladung zum Abendessen bei mir. Jeder von ihnen ließ sich bereitwillig von meinen Kochkünsten verführen und war mehr oder weniger interessiert am Austausch von Rezepten. Schließlich ist jeder, der etwas auf sich hält, selbstverständlich ein Gourmet.
Nach eingehender Prüfung der Zusammensetzung hatte ich endlich meine heiß ersehnte LMAA-Tablette für alle Lebenslagen gefunden. Sie lag vor mir und wollte genommen werden. Und das jede Woche einmal. Der offizielle Gourmetzirkel und meine inoffizielle Selbsthilfegruppe waren eröffnet.
Das war vor über drei Jahren.

***

Gut hören kann ich nicht, aber schlecht sehen kann ich gut.


Was mein Alter betrifft, löst diese Zahl bei mir immer wieder Verwirrung aus.
Ich meditiere, atme nach Dr. Shioya und unternehme lange Spaziergänge mit Lotti IV. In meinem hauseigenen Spa verwöhne ich mich regelmäßig mit Jacuzzi und Dampfbädern. Ich esse viel frisches Obst und Gemüse, trinke Grüntee und Wasser. An den Wochenenden tanze ich mit Beamer und Leinwand zu Beyoncé und Michael Jackson wegen der Glückshormone, bin dabei aber vorsichtig mit meinen Knochen und Gelenken. Ich meide zu viel Sonne wegen der Hautalterung und Melanomgefahr. Zum Glück habe ich gute Gene. Mein Spiegelbild sieht niemals aus wie dreiundsechzig!
Dann gibt es wiederum nicht so optimistische Tage. Ich betrachte meine Krähenfüße und meinen Knitterhals und stelle fest: Jede Schildkröte sieht jünger aus als ich.
Vielversprechende Blicke in hübsche Männeraugen sind mein Lebenselixier. Mit meinen kläglichen Flirtversuchen komme ich mir zunehmend lächerlich vor. Seit meinem Ruhestand schrumpfen außerdem die Gelegenheiten rapide. Der Schock sitzt tief.

Donnerstag, 12. September 2013


An diesem traumhaften Spätsommerabend sind wir bei mir. Wir sind meistens bei mir. Erstens ist es bei mir am schönsten, und zweitens ist da keiner, der uns stören könnte.
Die Villa hat mein Urgroßvater gebaut.
In dem überdimensionierten Wintergarten lagerte früher, fein säuberlich abgedeckt, das antiquarische Gerümpel meiner Eltern. Zwischen den Gespensterlaken habe ich als Kind mit meiner einzigen Freundin Verstecken gespielt. Heute ist hier mein Lieblingsplatz.
Die Bananenstaude trägt dieses Jahr zum ersten Mal Früchte, und ich fühle mich unter all den exotischen Gehölzen mit den herabhängenden Urwaldgewächsen wie im Paradies.
Und mitten in meinem Paradies steht die größte Kostbarkeit aus dem Nachlass meiner Eltern: die riesige, goldglänzende Weltkugel mit ihren sandgestrahlten Kontinenten, die friedlich um die geneigte Achse kreisen. Den Solarantrieb dafür habe ich nachträglich einbauen lassen.
Wenn die Sonne scheint, verzaubert sie mich immer wieder durch unglaubliche Lichtreflexe. Ich liege bequem auf meinem Samtkanapee und kann mich in Sekunden an jeden Ort der Welt wünschen. Zum Meditieren besser als jeder Buddha. Für den Entwurf von diesem Wunderteil bin ich meinem Urgroßvater heute noch dankbar. Seinerzeit war er anscheinend Stararchitekt und hat sogar aus irgendeinem Grund das Bundesverdienstkreuz bekommen.
Doch ich stehe erst am Anfang meiner Ahnenforschung.
Das Empfangszimmer für meine kleinen Gesellschaften habe ich inzwischen auch in den Wintergarten verlegt und den antiken Eichentisch mit den dunkelroten Polsterstühlen hierher verfrachten lassen. Auf dem blütenweißen Tafeltuch funkeln meine schönsten Erbstücke. Sorgfältig platziere ich ein paar zartrosa Kornblumenköpfchen zwischen duftende Thymianzweige.
Einer der Vorteile im Ruhestand: Ich habe Zeit und Muße für eine ausdrucksvolle Tischinszenierung und kann mich wie ein Kind auf Gäste freuen.
Es macht mir nichts mehr aus, wenn ich fremde Keime und Fußtapsen im Haus habe. Ich kann sogar ertragen, wenn jemand außer mir in meiner Küche herumfuhrwerkt. Zumindest an diesen Abenden. Ich liebe diese Abende. Heute sind wir fast vollzählig. Edgar hat abgesagt. Seine Frau leidet an einer geheimnisvollen Krankheit. Er redet kaum darüber. Die Pflege nimmt ihn wohl schwer in Anspruch.
Nachdem die Damen nacheinander eingetroffen sind und meinen hübschen Tisch angemessen bewundert haben, serviere ich Odeuvre und den Aperitif.
Jasmin erhebt ihr Glas. »Mama, Helene, Nina – ich trinke darauf, dass wir noch viele schöne Abende miteinander verbringen können.«
Meine Cousine Helene, die Jüngste von uns Alten, prostet zurück: »Du und ich wahrscheinlich noch ein paar mehr als die anderen.«
Die paar Wochen, die Helene jünger ist als ich … aber ich glaube nicht, dass sie mich wirklich ärgern will. Und wenn ich eben früher sterbe, kriege ich ihre Schadenfreude ja nicht mit … – ich frage mich, was in meinem Kopf manchmal vorgeht …
Heute müssen die Vorteile der Alten unbedingt hervorgehoben werden. Ich hoffe, es gibt welche, denn für mich war es eine ziemlich faltige Woche:
»Dafür müsst ihr noch länger arbeiten, euch jeden Morgen aus dem Bett quälen und eure kleingeistigen Kollegen ertragen.« Nina bemerkt meine echte Verzweiflung. »Du hast doch nicht etwa ernsthaft Angst vorm Altwerden? So wie du noch … ich meine, wie du so drauf bist. Du machst auf mich immer den Eindruck, als hast du mit dem Alter gar keine Probleme.« Jasmin und Helene schleichen unauffällig in die Küche, um den zweiten Gang vorzubereiten. Ich bin mit Nina allein. Und die ist immerhin fünf Jahre älter als ich.
»Ich hab im Grunde keine Probleme mit dem Altwerden, Ninalein – aber es ist eben nicht ein Tag wie der andere. Am Wochenende hatte ich doch mein Toxi-Seminar …«
»Machst du das jetzt häufiger?« Nina fällt mir gern ins Wort. »Ab und zu gebe ich mal ein Seminar über die Ärztekammer, wenn die Themen passen. Macht für mich den Vollzeitausstieg nicht ganz so dramatisch. Jedenfalls – einer der Teilnehmer war – wie soll ich sagen – überaus reizvoll; so Mitte fünfzig. Ich war eifersüchtig, weil er mit seiner Sitznachbarin rumgeflirtet hat und nicht mit mir. Die war auch noch gefühlte dreißig Jahre jünger als ich. Ich war die Chefin, die vor den Leuten steht, alles weiß und dabei hinreißend aussieht … Der Gedanke, er würde niemals mit einer alten Schachtel wie mir liebäugeln, war niederschmetternd.«
Nina: »Männer wollen nicht unbedingt eine Professorin im Bett. Obwohl – so mit den passenden Klamotten und dem Zeigestock in der Hand … Wenn die Herren das schnelle Abenteuer suchen, ist es relativ egal, welche von den Herzchen schlauer ist oder gar die Chefin. Aber du bist keine alte Schachtel und siehst hinreißend aus. Er hat dich ganz sicher total bewundert. Du bist charmant und gewitzt.« Nina versucht ihr Bestes.
»Ach hör auf. Ich will nicht bewundert werden. Vielmehr – das natürlich auch. Aber in der Hauptsache will ich heiß begehrt werden. Oder wenigstens angehimmelt ...«
»Da sind wir schon zwei. In der Hinsicht haben wir bestimmt beide früher nicht viel verpasst, da sind wir leider verwöhnt. – Könnte es vielleicht sein, dass du einfach nicht sein Typ warst? Das hatte mit deinem Alter bestimmt gar nichts zu tun. Manche Kerle sind auch einfach blind für das, was ihnen zu Füßen liegt. Ich weiß noch, wie fassungslos ich damals meine Beziehungsnachfolgerin und meinen Ex angestarrt haben muss. Die liefen mir unverhofft in der Stadt in die Arme. Ich konnte leider nicht mehr ausweichen und dachte voller Entsetzen: Das kann nicht sein Ernst sein; wie kann er denn so eine nach mir nehmen?! Später habe ich obendrein erfahren, dass er die schon während der Zeit mit mir hatte … Da steckst du nicht drin.«
Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Und mir fällt noch eine Sache ein.
»Na ja, als ich zu Facharztzeiten mit der Stationsbesatzung in der Kneipe saß … habe ich mit ansehen müssen, wie einer von den interessanten Typen aus unserer Runde ziemlich auffällig eine im Visier hatte. Und das war bloß eine Krankenschwester. Hallo – Ich sitze hier – ich bin viel schöner und intelligenter als dieses Blödchen mit ihren falschen Wimpern. Ich habe innerlich gejammert, doch ich hätte viel lieber wütend gebrüllt. Mein weibliches Ego will hofiert werden, damit ich mich zieren kann und ihn nach angemessener Verzögerung endlich erhöre ...«
Das werde ich höchstwahrscheinlich wollen, bis ich im Sarg liege.
»Aber du hast recht, später fand ich den Typ nach eingehender Betrachtung selbst nicht mehr so toll. Und dass er nicht auf mich abgefahren ist, kann damals auch kaum an meinem Alter gelegen haben.«
»Siehst du«, Nina wirkt erleichtert, weil sie mich scheinbar aufgebaut hat. Und sich gleich mit. »Ich habe schon in meinen Fünfzigern festgestellt, dass ich gar nicht mehr auf Abenteuer aus bin. Nicht nur weil das verzweifelt aussehen könnte. Meine Prioritäten haben sich mit der Zeit verschoben; ganz von allein. Wenn ich ein betagtes Pärchen Hand in Hand durch die Stadt laufen sah, wurde mir immer ganz warm ums Herz. Das wollte ich auch. In puncto Liebesschmerz hatte ich ganz schön was zu ertragen über die Jahre. Meine Scheidung war für mich eine Katastrophe damals. Danach habe ich einige Jahre vor mich hingedümpelt. All die Pleiten mit Männern; immer auf der Suche nach dem Richtigen. Vielleicht war ich in Wirklichkeit bloß auf Abenteuer aus, die mich von meiner Einsamkeit ablenken. Mit dem Richtigen hätte ich mich ja sehr früh wieder gebunden, wenn ich ihn gefunden hätte. Alles unbewusst abgelaufen vermutlich. Ich hätte mich schließlich niemals sehenden Auges immer wieder auf die gleichen Verlierer eingelassen. Im Nachhinein finde ich all die Scherereien in der Summe sogar besser, als den Falschen an der Backe zu haben. Für mich steht fest, dass ich durch das ganze Männergedöns erst richtig wach geworden bin. Sicher – manche Zwischenfälle hätte mir der liebe Gott auch ersparen können.
Ich habe mich mal in Ruhe hingesetzt und aufgeschrieben, was ich bis jetzt hatte und was ich dringend ändern muss. Bei vollem Bewusstsein habe ich mir einen gestandenen und verlässlichen Mann herbeigewünscht, mit dem mich ein tiefes Zusammengehörigkeitsgefühl verbindet. Ich habe ihn genau beschrieben, den Text auswendig gelernt und täglich vor mich hingeleiert. Je öfter ich mir das vorgestellt habe, desto mehr habe ich es verinnerlicht. Und: Es hat geklappt! Trotz Verspätung, ich war ja schon vierundsechzig, ist Anton genau der Richtige. Wir sind beide von unserer Vergangenheit geprägt, das merke ich jeden Tag. Vielleicht gehen wir deswegen vorsichtig und voller Respekt miteinander um. Und ich glaube, ich kann sagen, wir lieben uns. Bis für mich glasklar war, was ich vom Leben erwarte, habe ich relativ planlos meinen Trott gelebt und mich gewundert, dass vieles vor den Baum geht.
Du dagegen hast immer einen Plan und brauchst niemanden. Schon gar nicht einen Mann, der dir jeden Tag auf der Pelle hockt. Dafür bewundere ich dich, Mathilda. Aber für mich wäre das nichts.«
Nina macht mir richtig Lust auf einen anständigen Kerl.
»Ganz so ist es nun auch nicht. Tatsächlich wünsche ich mir schon ab und zu einen Mann für traute Zweisamkeit mit allen Finessen.«
Ja – einen, der mich kennt. Aber nicht zu gut. Einen, der mich zu nehmen weiß.
»Allerdings kommt für mich ein Zusammenleben nicht mehr infrage. Ich muss schon mit meinem eigenen Charakter klarkommen. Und wenn dann noch ein anderer dazukommt, stünde ich jeden Tag vor einer äußerst unbequemen Herausforderung. Ich folge lieber weiterhin meiner Philosophie: Besser wollen, was man nicht hat, als haben, was man nicht will. – Ich bin zu gern allein und kann auch Kleinigkeiten, für die ein anderer vielleicht kein Auge hat, ungestört genießen. Das war früher schon so, als ich ohne Konrad ins Theater nach London oder in die Normandie gereist bin ... Er hatte keine Lust und mir kam das gerade recht. Das war so ziemlich das Einzige, was bei uns beiden einvernehmlich war. Allein unterwegs sein in der Großstadt oder auf dem Land bei gastfreundlichen französischen Weinbauern und dabei meine Fremdsprachen trainieren, ist für mich immer noch das Größte.«
Nina: »Das meine ich. Ich hätte Angst, dass ich mich verlaufe oder dass mich jemand wegfängt.«
»Dann hast du wenigstens was zu erzählen. Aber, keine Angst, kaum einer wird eine alte Frau wegfangen.«
Nina: »Sehr charmant, Mathilda.«
Ich überlege, ob ich das wieder hinbiegen muss. Aber Nina lächelt noch und ist zum Glück nicht so empfindlich wie ich.
»Weißt du, mich interessieren die Menschen in allen Himmelsrichtungen. Die kann ich am besten allein kennenlernen. Meine Entdeckungsreisen haben mich auch ganz schön von meinen Problemchen kuriert. Nach meinen privaten Forschungen sind die Gefühle der Menschen überall gleich, trotz der kulturellen Unterschiede. Jeder hat seine Lebensgeschichte und Mentalität und verarbeitet die täglichen Ärgernisse ganz und gar auf seine Weise. Das ist in anderen Ländern genauso wie bei uns. Die einen schießen oder schlagen um sich – mit physischen oder verbalen Waffen – ich weiß gar nicht, was schlimmer ist ... – Die anderen bringen sich ohne Voranmeldung um, oder sie leiden ein Leben lang still vor sich hin. Der Nächste lässt seinen Frust an den Schwächeren aus oder besäuft sich jeden Tag … Für das Wohlbefinden aller Beteiligten ist es in jedem Fall am besten, sich kurieren zu lassen, wenn du merkst, du schadest ständig dir selbst und den anderen.
Ich finde, der Verdruss der Menschheit resultiert fast ausschließlich auf dem haarsträubenden Betragen einzelner Subjekte, mit denen man zwangsläufig zu tun hat. Und natürlich, dass man sich in solchen Momenten nicht dagegen wehren kann. Ich kann manchmal das weltfremde Verhalten von meinem jeweiligen Gegenüber überhaupt nicht nachvollziehen; da krieg ich richtig Wut. Aber es gibt immer solche und solche.
Ich habe oft erlebt, wie Armut, Krankheit oder schwere Verluste einen Menschen in Schockstarre versetzen können. Ein Lächeln, ein liebes Wort, kleine freundliche Gesten und Hilfe, die von Herzen kommt, sind in solchen Momenten Gold wert.« Nina macht es mir immer leicht, mich besonders klug zu fühlen. »Die Ethnologen sagen, dass man tief in eine andere Welt eintauchen muss, um die eigene zu verstehen. Die meinen bestimmt diese Erkenntnis.«
Selbst wenn ich mein eigenes Geschwafel manchmal nicht hören kann, findet Nina immer noch was Gutes daran. Sie fordert es ja praktisch heraus:
»Ich tauche oft in andere Welten ein. Manchmal besuche ich Plätze meiner Vergangenheit und mache Zeitreisen. Ich erinnere mich an damals und kriege Sehnsucht.«
Inzwischen ist es fast dunkel. Ich zünde die Zitronengraskerzen an, die dezent ihren Bioduft verbreiten. Ein Geschenk von Helene. Sie ist überhaupt nicht der Kerzen- oder Alles-muss-bio-sein-Typ, aber sie weiß, dass ich so ein Zeug mag.
»Nostalgie – das kann ich nur allein. Ein anderer hat ja keinen Bezug dazu. Jedenfalls einen anderen als ich.«
Jasmin serviert Jakobsmuscheln und trällert: »Höre ich Nostalgie? Mama schwelgt wohl wieder in Erinnerungen.« Meine großklappige Tochter setzt sich mit Helene zu uns und legt nach: »Ich war ja nie so der Typ, der alten Zeiten nachtrauert. Ich sehe das ganz pragmatisch. Ein Umstand bedingt den nächsten. Wo wäre ich jetzt, wenn alles so geblieben wäre, wie es war. Ich glaube, alles hat irgendwie seinen Sinn, ausgenommen mittlere Katastrophen natürlich. Wenn ich mal im Ansatz bedauert habe, dass etwas Schönes zu Ende ging – ich denke an meine gemütliche Referendarstelle in der Rhön – wusste ich immer: Ich möchte auch am schönsten Fleck der Erde nicht ewig bleiben. Es gibt so viele Plätze, die ich erkunden will, und zwar nicht touristenmäßig, sondern mitten in meinem Arbeitsleben. Das muss noch nicht mal weit weg sein. Ich platze jedes Mal vor Neugier und bin gespannt, was hinter der neuen Tür ist, die sich als Nächstes für mich öffnet. Natürlich kann das auch mal ins Auge gehen, und ich kann dann nicht mal jemanden die Schuld geben. Aber das macht den Reiz für mich aus. Es ist immer ein Sprung ins kalte Wasser ...«
Helene muss erst mal die Euphorie stoppen. »Dabei kannst du auch mitten im Wartesaal vom Arbeitsamt wieder auftauchen.« »Ja, das passiert schon mal. Ist zwar ein mulmiges Gefühl für mich gewesen, aber ich weiß, dass ich hierzulande keine Angst haben muss. Solange ich gesund bin, kann ich mich auf mich verlassen. Und meine Gesundheit halte ich in Ehren. – Ich brauche Spannung, will Neuland betreten … Für mich gibt’s nichts Schlimmeres als Monotonie über Jahre.«
Ich wundere mich oft, dass meine eigene Tochter so anders ist als ich. Sie steuert zielstrebig in Richtung Ungewissheit und wirkt trotzdem so abgeklärt. Kann ich gleich mal erkunden:
»Das habe ich an dir immer so bewundert und oft gar nicht verstanden, Mausi, wenn du wieder mal irgendwo gekündigt hast. Mit Neuanfängen tue ich mich immer schwer. Den Gedanken an Veränderung finde ich zwar ganz reizvoll, aber ich ziehe die Bestandssicherheit vor. Das ist bequemer. Eigentlich hat sich für mich nie viel geändert. Trotzdem waren die Zeiten damals ganz anders. Ja, ich vergolde die alten Zeiten, auch wenn ich weiß, dass sie nicht immer rosig waren. Nur das Schöne wird herausgefiltert in meinen Erinnerungen und darf sich einprägen. Den Trick habe ich von meiner Claire. Man kann die Zeit nicht festhalten oder zurückdrehen, ich weiß. Und je mehr Zeit vergeht, desto öfter wünschte ich, dass ich zurückspringen kann und nur einen einzigen schönen Tag noch einmal erleben dürfte.«
Nina: »Und wie lautet denn der Rat von deiner Claire?«
»Ratschläge gibt’s leider nicht direkt von ihr. Aber wir sind darauf gekommen, dass ich am besten meine Fantasie benutze und mir alles zurechtspinne, was ich möchte. Meine Gedankenwelt spielt schöne Dinge ab, negative Szenarien werden als schlechter Traum deklariert. Reine Übungssache. Als du dir deinen Anton herbeigewünscht hast, ist wahrscheinlich auch nichts anderes passiert, als dass sich deine Gedanken im Gehirn manifestiert haben, je öfter du daran gedacht hast. Und irgendwann hat sich deine Vorstellung erfüllt. – Ich war lange wütend und ärgerlich auf die Hohlköpfe, mit denen ich zu tun hatte und die ich wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Meine synaptischen Wut-Ärger-Verbindungen haben sich so von Holperwegen in Autobahnen verwandelt. Als Folge war meine Grundstimmung immer missmutig. Nicht zu vergessen die Wechselwirkung mit meinem Umfeld.
Mein Fazit: Die Laune, die ich selbst verbreite, kommt potenziert zu mir zurück. Ich werde also mein Bestes geben und gut gelaunt sein, so oft es geht. Seht mir bitte nach, dass das nicht ununterbrochen geht, aber es wird immer besser.«
Helene ist das zu kompliziert. »Also, Mathilda, brauchst du denn wirklich eine Dauertherapeutin? Ich denke, du brauchst nur deinen gesunden Menschenverstand. Soweit ich das beurteilen kann, ist der dir noch nicht vollständig abhanden gekommen.«
»Brauchen tun andere garantiert dringender eine Therapie, das ist mir schon klar. Ich sehe das als Luxus, der mir Zeit und Energie spart. Nach einer wie Claire musste ich lange suchen. Sie sagt nicht viel, aber durch ihre sparsamen und gezielten Fragen betrachte ich danach belastende Tatbestände aus völlig unbekannten Blickwinkeln. Ich lerne, zu verstehen. Und das lindert ungemein. Ich staune immer wieder über die menschliche Hirnfunktion. Als detailliertes Beispiel habe ich leider nur mich selbst. Bei mir komme ich auf unglaubliche Denk- und Handlungsvorgänge, wenn ich mein Verhalten auf bestimmte Ereignisse hin untersuche.«
Helene: »Deine Ausdrucksweise könnte ich manchmal...«


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Meine inoffizielle Selbsthilfegruppe



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